- Jean Paul, Hölderlin, Kleist: Sonderwege
- Jean Paul, Hölderlin, Kleist: SonderwegeIn der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1830 nehmen drei Schriftsteller eine Sonderrolle ein, da sich ihre Werke den literarischen Strömungen der Zeit, wie Empfindsamkeit, Spätaufklärung, Klassik und Romantik, weder stilistisch noch thematisch zuordnen lassen. Es handelt sich um Johann Paul Friedrich Richter, der sich als Autor Jean Paul nannte, Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist. Alle drei hatten zwar Kontakte zu anderen bedeutenden Schriftstellern ihrer Zeit, hielten aber Distanz und verfassten Werke, deren Einzigartigkeit auch eine eigenständige Behandlung notwendig macht. Allerdings unterscheidet sich Jean Paul durch seinen Erfolg beim zeitgenössischen Publikum deutlich von Hölderlin und Kleist, deren Arbeiten zu Lebzeiten fast ohne Resonanz und zu größeren Teilen sogar unveröffentlicht geblieben sind. Erst im 20. Jahrhundert wurden ihre Werke so intensiv rezipiert, dass sie neben die von Goethe und Schiller traten. Die Biographien Hölderlins und Kleists waren ein wichtiger Grund für diesen Wandel der Rezeption. Denn die Zerrissenheit ihrer Persönlichkeiten und die Rätselhaftigkeit einzelner Lebensphasen übten eine so starke Anziehungskraft auf das Publikum aus, dass sie ins Zentrum der Literaturgeschichte rückten, während Jean Paul als kauziger Sonderling ins Bewusstsein der Nachwelt einging und zum Autor von Liebhabern wurde.Jean Paul hat um den Erfolg zu Lebzeiten hart gerungen, aber seine Eigenheiten nie aufgegeben. Diese prägen auch seine zahlreichen Romane und Erzählungen. Immer handelt es sich dabei um Werke, die aus eigenständigen Teilen wie Vorreden, Exkursen, Rückblenden und Ergänzungen zusammengesetzt werden und unterschiedliche Themen in einer Mischung aus humoristischer, satirischer und empfindsamer Schreibweise behandeln: historische Begebenheiten, alltägliche Sorgen, wissenschaftliche Entdeckungen, philosophische Fragen und innere Vorgänge. Die Handlung, die meist als fiktive Biographie angelegt ist, wird dabei bis zur Auflösung zergliedert: Jean Paul hatte hierin zwar Vorläufer im englischen Roman - vor allem Laurence Sterne -, fand aber erst in der Moderne Nachahmer. »Ich stehe und bleibe allein«, heißt es 1819 in einer Notiz des 56-Jährigen, nachdem er längst berühmt war und sich in bescheidenem Wohlstand zurückgezogen hatte.Die Armut seiner Kindheit als Sohn eines protestantischen Pfarrers in der fränkischen Provinz hielt noch lange an, nachdem sich Jean Paul 1784 dazu entschlossen hatte, sein Theologiestudium in Leipzig abzubrechen, um freier Schriftsteller zu werden. Seine frühen Satiren blieben unbeachtet. Erst mit seinem Roman »Die unsichtbare Loge« (1793) hatte Jean Paul einen ersten Erfolg, der sich mit dem »Hesperus« (1795) zur Berühmtheit steigerte, sodass er von Goethe und Schiller nach Weimar eingeladen wurde. Hier lebte er als anerkannter und vor allem bei Frauen beliebter Autor zwischen 1798 und 1800, setzte sich aber in seinem Roman »Titan« (1800-03) kritisch mit den Auffassungen der Weimarer Klassik auseinander.Mit dem Erscheinen seiner »Vorschule der Ästhetik« (1804), in der er seine Schreibweise erläuterte, ging Jean Paul in seine fränkische Heimat zurück und lebte über 20 Jahre in Bayreuth. Doch blieb er im Gegensatz zu den Klassikern und Romantikern seiner republikanischen Gesinnung treu, wie sein letzter großer Roman, der »Komet« (1820-22), noch einmal zeigt, in dem er sich kritisch mit der politischen Restauration in Deutschland auseinander setzte. Diese politische Sensibilität machte Jean Paul zum Vorbild der Autoren des Jungen Deutschland und des Realismus, bis sich Ende des 19. Jahrhunderts Nietzsches Urteil über das »Verhängnis im Schlafrock« durchsetzte, das bis heute nur von Fachleuten korrigiert wurde.Noch stärker als Jean Paul hat sich Friedrich Hölderlin für die Ideen der Französischen Revolution begeistert, griff aber auf die griechische Mythologie und Literatur zurück, um die eigene Zeit zu deuten. Da Hölderlin die Antike mit der christlichen Tradition verband und beide wiederum auf die philosophischen Theorien des 18. Jahrhunderts bezog, sind seine Gedichte, vor allem die Oden, Hymnen und Elegien, von einer großen Bilder- und Gedankenfülle, die sie schwierig und nicht selten rätselhaft werden lässt. Dem Idealismus Hölderlins standen allerdings bedrückende Lebensverhältnisse gegenüber, die auch seine Texte zunehmend dunkler und unzugänglicher machten.Da er sich nach dem Studium der Theologie und Philosophie im Tübinger Stift, der Eliteschule der württembergischen Landeskirche, von 1788 bis 1793, gegen den Beruf des Pfarrers entschieden hatte, musste Hölderlin als Hauslehrer arbeiten, um sich eine Existenzgrundlage für die literarischen Arbeiten zu schaffen. Doch endeten alle vier Anstellungen in adligen und großbürgerlichen Häusern im Desaster: die erste bei Charlotte von Kalb in der Nähe Jenas wegen fortwährenden Streits zwischen Lehrer und Zögling; die zweite in Frankfurt wegen der entdeckten Liebe zwischen Hölderlin und der Ehefrau des Hausherren, Susette Gontard, die als Diotima in einige Gedichte und den Roman »Hyperion« eingegangen ist; zwei weitere in der Schweiz und in Bordeaux vermutlich wegen der psychischen Erkrankung Hölderlins. Die zunehmende geistige Verwirrung führte dazu, dass Hölderlin ab 1807 der Familie des Schreinermeisters Zimmer in Tübingen zur Pflege übergeben wurde. Über 35 Jahre lebte Hölderlin hier bis zu seinem Tod in einem Turmzimmer, schrieb weiterhin Gedichte und wurde von bekannten Autoren wie Schwab und Uhland besucht, die seine Gedichte sammelten und 1826 erstmals in einer Ausgabe bekannt machten.Hölderlin selbst hat nur wenige Gedichte in Musenalmanachen, Zeitschriften und Periodika veröffentlicht und konnte außer dem »Hyperion« (1797/99) und den Sophokles-Übersetzungen (1804) weder sein lyrisches Werk noch sein Drama »Der Tod des Empedokles« oder seine theoretischen Schriften in Buchform publizieren, sodass er zu Lebzeiten unbekannt blieb und erst mit der Edition seiner Werke seit Beginn des 20. Jahrhunderts als bedeutender Autor erkannt wurde. Die zahlreichen Publikationen und Kontroversen zu seinen lyrischen Texten, seinen philosophischen Auffassungen und seiner Krankheit sowie die Gedichte, Dramen und Romane über sein Leben haben die Auseinandersetzung mit seinem Werk trotz dessen Schwierigkeit bis heute lebendig gehalten.Auch Heinrich von Kleist ist erst nach seinem spektakulären Tod, der ihn bei den Zeitgenossen bekannt machte, als Autor in die Literaturgeschichte eingegangen. Sein Leben selbst bleibt eine Kette von Rätseln, da er mit unklaren Zielen sehr viel reiste, selten einen festen Wohnsitz hatte und bei seinen staatlichen Anstellungen mit unklaren Aufgaben, zum Teil wohl mit Spitzeldiensten, bedacht war. In seinen Briefen, die immer Selbststilisierungen sind und zum literarischen Werk gehören, hat Kleist viel zur Verrätselung seiner Person beigetragen, sodass einige Lebensphasen und Verhaltensweisen bis heute Gegenstand von Spekulationen geblieben sind.Nachdem der Offizierssohn bereits mit 15 Jahren zum Militär kam und in den knapp vier Jahren der Dienstzeit Offizier wurde, erbat er seinen Abschied, um studieren zu können. Doch nahm er das Jura-Studium 1799 in Frankfurt/Oder nur widerwillig auf. Im Herbst 1800 reiste er in geheimer Mission nach Würzburg und dann nach Paris. Nach einer zweiten Reise in die Schweiz ging er über Genf und Paris nach Berlin, wo er 1805 im Finanzministerium angestellt wurde, wechselte aber im selben Jahr nach Königsberg zur Kriegs- und Domänenkammer. Von 1807 bis 1809 arbeitete er als freier Schriftsteller in Dresden und ab 1810 in Berlin.Zentrale Themen seines Berufs als Offizier wie Recht und Gewalt, Ehre und Nation prägen auch Kleists literarisches Werk. Doch kommen Affekte, Fantasie und Erotik als handlungsbestimmende Mächte hinzu. Von seinen Dramen wurden nur drei zu Lebzeiten aufgeführt: die »Familie Schroffenstein« vermutlich ohne Wissen des Autors 1804 in Graz, der »Zerbrochene Krug« 1808 in einer Inszenierung von Goethe am Weimarer Hoftheater und das »Käthchen von Heilbronn« 1810 in Wien. Doch waren alle drei Aufführungen erfolglos. Die anderen Dramen, »Penthesilea«, »Prinz Friedrich von Homburg«, »Amphitryon« und »Hermannsschlacht« wurden, obwohl zum Teil im Druck erschienen, erst mit den Ausgaben der »Hinterlassenen Schriften« und der »Gesammelten Schriften« bekannt, die Ludwig Tieck 1821 und 1826 herausgegeben hat. Auch die Erzählungen, die 1810 und 1811 in zwei Sammlungen erschienen sind, nachdem sie zuvor bereits in zwei von Kleist gegründeten, aber ebenfalls erfolglosen Periodika, dem »Phöbus« (1807/08) und den »Berliner Abendblättern« (1810/11) gedruckt worden waren, wurden kaum beachtet. »Ich habe in Paris mein Werk, so weit es fertig war, durchgelesen, verworfen und verbrannt: und nun ist es aus«, heißt es schon 1803 in einem der Briefe, in denen Kleist seinen Selbstmord ankündigt. »Der Himmel«, so fährt er fort, »versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde«. Erst mit dem doppelten Freitod am Kleinen Wannsee, bei dem Kleist zuerst seine kranke Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst erschoss, hat er eine so große Wirkung erzielt, dass beiden am Ort des Todes ein Grab errichtet wurde, und der Tod darüber hinaus auch zum Bezugspunkt einer intensiven Rezeption im 20. Jahrhundert wurde.Dr. Detlev Schöttker
Universal-Lexikon. 2012.